- Kraftwagen: Fahren mit trügerischer Sicherheit — Verkehrsunfälle
- Kraftwagen: Fahren mit trügerischer Sicherheit — VerkehrsunfälleIm Jahr 1998 wurden auf den Straßen der Bundesrepublik Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2,25 Millionen Verkehrsunfälle von der Polizei aufgenommen (1997: 2,23 Millionen). Insgesamt wurden bei Unfällen 497 638 Personen verletzt (1997: 501 094), davon 7772 tödlich (1997: 8549). Dies ist zwar die niedrigste Zahl an Verkehrstoten seit dem Zweiten Weltkrieg, dennoch gibt es keinen Anlass zum Jubel: Die Zahl entspricht den Toten, die es beim Crash von jährlich 20 Jumbojets gäbe — allein in Deutschland! Insgesamt dürfte das Auto in seiner 110-jährigen Geschichte etwa 25 Millionen Menschen das Leben gekostet haben. Seit Gründung der Bundesrepublik sind auf ihren Straßen etwa 500 000 Menschen gestorben.Die Gesellschaft entwickelt gegen diese Verlustraten eine erstaunliche und nur schwer erklärbare Toleranz. Die Zahl an Verkehrsunfalltoten hatte im Jahr 1970 ein Maximum von über 20 000 erreicht, und noch 1992 waren über 10 000 Menschen auf den Straßen umgekommen. Vielerlei Maßnahmen haben diese Zahl reduziert: Verkehrserziehung und -pädagogik, flächendeckende Unfallmelde- und Rettungssysteme, bessere unfallchirurgische Versorgung, vor allem aber technische Weiterentwicklungen von Fahrweg und Fahrzeug. Welcher Faktor letztlich entscheidend war, ist praktisch nicht festzustellen.Wie steigert man die Sicherheit?Es ist zu unterscheiden zwischen Fahrzeugsicherheit und Sicherheit des Gesamtsystems Straßenverkehr. Zum Letzteren zählt man unter anderem bauliche Maßnahmen (beispielsweise der Ausbau von Straßen, Entschärfung von Kurven, Abbau von Gefahrenstellen, Betrieb von Ampelanlagen, verbesserte Beschilderung), organisatorische Bestimmungen (etwa die Pflicht zu einer regelmäßigen technischen Untersuchung von Fahrzeugen), juristische Bestimmungen (wie das Verbot von Alkoholgenuss am Steuer oder ein Tempolimit) und nachgeordnete Vorkehrungen (zum Beispiel die Verbesserung von Rettungsdiensten und Unfallchirurgie). Alle diese Maßnahmen kommen sowohl den Fahrzeuginsassen als auch den Verkehrsteilnehmern zugute, die nicht im Innern des Wagens sitzen.In diesem Abschnitt sollen nur die Verbesserungen der Fahrzeugsicherheit betrachtet werden. Hier ist es das Ziel, den Schutz der Fahrzeuginsassen zu verbessern. Luigi Locati führte 1964 die Begriffe aktive und passive Sicherheit ein. Zur aktiven Sicherheit gehören alle Maßnahmen, einen Unfall zu verhindern (unter anderem Funktionssicherheit, Fahr-, Bedienungs- und Wahrnehmungssicherheit). Ziel nahezu aller dieser Ansätze ist nicht allein, die Bedienung zu vereinfachen, sondern sie sozusagen narrensicher zu machen: Die Technik soll mögliche Fehler des Fahrers ausbügeln. Zur passiven Sicherheit zählen die Maßnahmen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Fahrzeugs die Folgen eines Unfalls mildern. Meist meint man die passive Sicherheit, wenn man die Sicherheit eines Autos beurteilt.Die Geschichte der Sicherheitsoptimierung beginnt in den Dreißigerjahren mit der zögernden »Entschärfung« der Innenräume durch gezielte Polsterung und die Entwicklung eines Sicherheitsglases, bei dem eine zwischengelegte Folie die Splitter festhält. Ein weiterer Fortschritt ist die geteilte Lenksäule, die sich im Falle eines Unfalls nach oben verformt und nicht wie ein Spieß die Brust des Fahrers durchbohrt. Mit der Einführung von »Knautschzonen« ab 1959, wie die Sicherheitslenksäule von dem Ingenieur Béla Barényi konstruiert, wurde eine neue Entwicklungsstufe der passiven Sicherheit erreicht.Bald war klar, dass solche optimierten Wagen nur mit geeigneten Rückhaltesystemen (Sicherheitsgurten) sinnvoll waren. Zuerst wurden Beckengurte erprobt, wie sie heute noch in der Passagierluftfahrt eingesetzt werden. Als optimal stellte sich ein Dreipunktgurt heraus (eine Kombination von Becken- und Schulterschräggurt), der von dem schwedischen Hersteller Volvo 1959 patentiert wurde. Auch sie wurden stetig verbessert: Waren die Gurte anfangs nur starr montiert, so gab es bald Automatikgurte, die im Fall eines Aufpralls blockierten. Verstellbare obere Befestigungspunkte, die Montage der Gurtschlösser am Sitz und Gurtstraffer, die mittels eines kleinen Sprengsatzes einen losen Gurt straff ziehen, sind heute technischer Standard. Eine Gurtpflicht gilt in Deutschland seit Anfang 1976.Am Beispiel der Sicherheitsgurte zeigt sich ebenfalls der Zusammenhang zwischen technischen Maßnahmen, gesetzlichen Regelungen und Akzeptanz der Benutzer. Selbst als klar war, dass Sicherheitsgurte Leben retten, dauerte es noch Jahre, bis Neuwagen damit ausgerüstet werden mussten und bis der Gesetzgeber eine Anlegepflicht verordnete. Mit teilweise irrationalen Argumenten sträubten sich manche Fahrer und einige Organisationen dagegen.1971 meldete Daimler-Benz das Patent für ein praxistaugliches selbstaufblasendes Luftpolster zum Schutz der Insassen eines Autos an. Man nennt es »Airbag« (Lufttasche). 1973 brachte Chevrolet in den USA das erste Modell mit einem (allerdings noch nicht voll ausgereiften) Airbag-System auf den Mark. Es dauerte noch bis 1980, dass erstmals ein praxistauglicher Airbag in einen PKW eingebaut werden konnte.Ein Problem war anfangs die funktionssichere Aktivierung bei einem Unfall. Die ersten Versuche, Druckluft aus Stahlflaschen einzusetzen, schlugen fehl. Die Lösung kam schließlich aus der Weltraumtechnik: Ein »Gasgenerator« verwandelte explosionsartig einen speziellen festen Treibstoff in eine Wolke von Verbrennungsgasen. Damit dieser Prozess im Fall eines Aufpralls in Sekundenbruchteilen abläuft, wurden zuerst mechanische Auslöser entwickelt; bei einer starken Abbremsung, wie sie bei einem Aufprall eintritt, initiierte eine kleine Metallfeder die Zündung des Gasgenerators. Mittlerweile werden Airbags bei einer Aufprallgeschwindigkeit von mehr als 25 Kilometern pro Stunde elektronisch ausgelöst.Heute werden nahezu alle Neuwagen mit Fahrer- und Beifahrerairbag ausgeliefert, in den USA sind sie seit 1993 sogar verbindlich vorgeschrieben. Zunehmend werden sogar Airbags für Fondpassagiere und zum Schutz bei Seitenaufprall angeboten.Verschiedene CrashtestsWie die meisten Entwicklungen ums Auto nahm auch die systematische Überprüfung der passiven Sicherheit von Fahrzeugen durch Crashtests — Versuchsreihen mit nachvollziehbaren Resultaten — in den USA ihren Anfang, wo Universitäten mit systematischen Unfalltests begannen. In den Fünfzigerjahren gab es auch in Deutschland die ersten Crashversuche. Rasten anfangs die Wagen frontal gegen einen starre Mauer, so modifizierte man die Tests in den weiteren Jahren. Insbesondere führte man Tests mit einer Teilüberdeckung ein, wo nur ein Teil der Fahrzeugbreite gegen die Barriere prallt. Seit den 1970er-Jahren werden auch »Dummys« eingesetzt, Puppen mit integrierten Sensoren, mit deren Hilfe man die bei einem Aufprall auftretenden Kräfte messen und so auf zu erwartende Unfallfolgen schließen kann.Seit Oktober 1998 gelten in Europa neue gesetzliche Crashnormen mit einem realitätsnahen Testverfahren (Euro-ECE-Test). Es umfasst einen Frontalcrash bei 56 Kilometern pro Stunde mit 40 Prozent Überdeckung gegen eine deformierbare Barriere und einen Seitencrash mit 50 Kilometern pro Stunde gegen eine deformierbare Barriere. Bewertet werden die Insassenbelastung (kritische Beschleunigungen, Druckverletzungen), die Dichtheit der Kraftstoffanlage, der Erhalt der Fahrzeugstruktur, das Maß, wie weit Teile in den Innenraum eindringen, und das Bergungsverhalten (zum Beispiel das Öffnen von Türen). International tätige Konzerne müssen auch die Anforderungen des amerikanischen Gesetzgebers erfüllen. Der aufwendige US-Test sieht fünf verschiedene Crashversuche mit Front-, Heck- und Seitenaufprall vor.Die unterschiedlichen Testverfahren und Bewertungskriterien können in unterschiedliche Beurteilungen ein und desselben Fahrzeugs münden. Dies zeigt, dass jede Fahrzeugoptimierung auf einen bestimmten Crashtest möglicherweise zulasten der Sicherheit bei anders gearteten Unfällen geht. So könnte etwa der noch nicht verbindliche NCAP-Test, der an den Euro-ECE-Test angelehnt ist, aber eine Aufprallgeschwindigkeit von 64 Kilometern pro Stunde vorsieht, dazu führen, dass die Fahrzeuge generell steifer gebaut werden und bei den im realen Unfallgeschehen üblichen niedrigen Geschwindigkeiten schlechter abschneiden.Technische Sicherheitspotenziale garantieren nicht automatisch eine höhere tatsächliche Sicherheit. Zu bewerten ist nämlich stets die Sicherheit des Gesamtsystems, die sich auch aus der Interaktion von Fahrer und Fahrzeug ergibt. Und hier liegt ein entscheidendes Problem: Es scheint eine psychologische Risikoanpassung der Fahrer zu geben, was zu einer Risikokonstanz des gesamten Systems führt. Ein Beispiel ist die Einführung der Allradtechnik für gewöhnliche PKWs. Zumindest in der Theorie sorgt der Allradantrieb bei kritischen Situationen für bessere Fahreigenschaften. Tatsächlich zeigte sich aber, dass die entsprechend ausgestatteten Fahrzeuge riskanter gefahren werden, was bereits kurze Zeit nach Einführung des Allradantriebs zu einer Zunahme der Unfälle führte.Die fahrzeugzentrierte Sicherheitstechnik steht also vor einem typischen Dilemma. Solange Autos von Menschen gefahren werden, gibt es kein »Unfallverhinderungs-Modul«, das vor Unfällen schützt. Wenn die Technik des individuell gelenkten Automobils nicht aufgegeben wird, ist stets mit einem anscheinend nicht zu reduzierenden Unfallrest zu rechnen.Dr. Kurt MöserWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Straßenverkehr: Staus und VerkehrsmanagementGrundlegende Informationen finden Sie unter:Kramer, Florian: Passive Sicherheit von Kraftfahrzeugen. Grundlagen, Komponenten, Systeme. Braunschweig u. a. 1998.
Universal-Lexikon. 2012.